Haiku zu analysieren kommt einer Vivisektion gleich. Am Ende ist die Maus mausetot. Versuch ich’s – weil Ralf mich darum gebeten – trotzdem.
78 Kurzgedichte, denen das Prädikat „Haiku“ verliehen, treten gleich zweisprachig mit dem Leser in Dialog. Die deutsche Version jeweils vorangestellt und gegenüber der englischen subtil im Grauwert abgestuft.
Da gibt es kleine Geschichten, die sich selbst dem Haiku-Unkundigen auf Anhieb erschließen:
wieder bei der Arbeit
jemand anderes
auf meinem Parkplatz
und ein „das kenn ich!“-Gefühl auslösen. Lümmel, über deren unverblümte Direktheit Frau gerne verschämt hinweg lesen möchte, um gleich darauf kichernd zurückzublättern, angesichts des scharfen Männerblicks, der durchaus Selbstkritik erkennen lässt:
Valentinstag
YouPorn löschen
in der Chronik
astrophysikalische Alltagsphänomene (liebe ich besonders!):
der Weltraum
meine Jeans
zu eng
und dann sind da vor allem richtig gute Haiku:
Fliege in der Flasche
welche Farbe hat ihr Himmel?
die ich unmöglich alle aufzählen kann, weil ich sonst das halbe Buch abdrucken müsste.
Experimente wie:
Tschüß?!
Tochter:
—
lassen sein Faible für Gendai-Haiku erkennen, bleiben für mich – als Smartphone-Verweigerer – allerdings auch schon mal kryptisch:
Nachricht Alt Tab Swoodoo Alt Tab
„Swoowas?“ möchte ich googlen, während mir den Klang der wohlverdienten allabendlichen Schaffenspause durchaus vertraut ist:
Feierabend
das Rauschen
der Festplatte
Rein technisch nutzt er alle Werkzeuge vom 1-Zeiler –
nach der Arbeit der Himmel und ich fahren heim
– wobei dieses Beispiel in Einklang (oder doch in Widerspruch? ... kenn einer den Ralf!) zu stehen scheint, mit der Eile, die ihn nach Hause treibt, denn da gibt es nicht eine einzige Leerstelle zu viel, die einen Zeilenumbruch auch nur andeuten würde, während dies ausgerechnet in einer „Paniksituation“ der Fall ist:
im Flur das Flackern des Fluchtweges
und so beleuchtet jenes grüne Licht mit den vier Buchstaben (EXIT) in drei dezent getrennten Segmenten die augenscheinliche Gelassenheit, mit der er diese „kritische Phase“ meistert – bis hin zum 5-Zeiler
beim Rotwein
fallen sie aus dem Rahmen
die Bilder
zuerst die Kameradschaft
dann der Granatsplitter
bei dem man sich all der guten Tanka erinnert, die er schon schrieb.
Scharnierzeilen verbinden die ganz kleinen Dingen mit dem großen Ganzen:
vom großen Zeh
fliegt fort ein Stück
Sternenstaub
und gelegentlich reichen sich die Zeilen 1 und 3 auch die (dazwischen liegenden) Hände:
sublime Botschaft
ihre Hand in seiner
wie sie kälter wird
Genug gelobt. Eigentlich. Oder auch nicht. Aber was soll ich noch sagen, ohne allzu viel zu verraten vom „Kreischen der Kreide“? Kaufen!
Leonische Mauer
die billigste Figur
Jesus
Kreischen der Kreide
the screech of chalk
Haiku / Poetry von Ralf Bröker; Red Moon Press, Winchester VA, USA, 2016 ISBN 978-1-936848-53-9 mit einem Vorwort von Dietmar Tauchner
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