18.06.16

Ein bunter Strauß aus Disteln und Orchideen, Schleierkraut und Stacheldraht

In der aktuellen Ausgabe von SOMMERGRAS, dem Mitgliedermagazin der Deutschen Haiku-Gesellschaft, schreibt Gabriele Hartmann:

Einen kunterbunten Strauß aus Disteln und Orchideen, Schleierkraut und Stacheldraht hat uns der 
Bröker da mit seinem neuen Buch „Kreischen der Kreide“ gebunden. Obwohl messerscharf getrimmt, bedarf es größerer Hände als meiner, ihn zu fassen.

 

Haiku zu analysieren kommt einer Vivisektion gleich. Am Ende ist die Maus mausetot. Versuch ich’s – weil Ralf mich darum gebeten – trotzdem.

 

78 Kurzgedichte, denen das Prädikat „Haiku“ verliehen, treten gleich zweisprachig mit dem Leser in Dialog. Die deutsche Version jeweils vorangestellt und gegenüber der englischen subtil im Grauwert abgestuft. 

 

Da gibt es kleine Geschichten, die sich selbst dem Haiku-Unkundigen auf Anhieb erschließen:

 

wieder bei der Arbeit 

jemand anderes

auf meinem Parkplatz

 

und ein „das kenn ich!“-Gefühl auslösen. Lümmel, über deren unverblümte Direktheit Frau gerne verschämt hinweg lesen möchte, um gleich darauf kichernd zurückzublättern, angesichts des scharfen Männerblicks, der durchaus Selbstkritik erkennen lässt:

 

Valentinstag 

YouPorn löschen

in der Chronik

 

astrophysikalische Alltagsphänomene (liebe ich besonders!):

 

der Weltraum 

meine Jeans 

zu eng

 

und dann sind da vor allem richtig gute Haiku:

 

Fliege in der Flasche

welche Farbe hat ihr Himmel?

 

die ich unmöglich alle aufzählen kann, weil ich sonst das halbe Buch abdrucken müsste.

 

Experimente wie:

 

Tschüß?! 

Tochter:

 

lassen sein Faible für Gendai-Haiku erkennen, bleiben für mich – als Smartphone-Verweigerer – allerdings auch schon mal kryptisch:

 

Nachricht Alt Tab Swoodoo Alt Tab

 

Swoowas?“ möchte ich googlen, während mir den Klang der wohlverdienten allabendlichen Schaffenspause durchaus vertraut ist:

 

Feierabend 

das Rauschen 

der Festplatte

 

Rein technisch nutzt er alle Werkzeuge vom 1-Zeiler –

 

nach der Arbeit der Himmel und ich fahren heim

 

– wobei dieses Beispiel in Einklang (oder doch in Widerspruch? ... kenn einer den Ralf!) zu stehen scheint, mit der Eile, die ihn nach Hause treibt, denn da gibt es nicht eine einzige Leerstelle zu viel, die einen Zeilenumbruch auch nur andeuten würdewährend dies ausgerechnet in einer „Paniksituation“ der Fall ist:

 

im Flur  das Flackern  des Fluchtweges

 

und so beleuchtet jenes grüne Licht mit den vier Buchstaben (EXIT) in drei dezent getrennten Segmenten die augenscheinliche Gelassenheit, mit der er diese „kritische Phase“ meistert – bis hin zum 5-Zeiler

 

beim Rotwein

fallen sie aus dem Rahmen 

die Bilder

zuerst die Kameradschaft  

dann der Granatsplitter

 

bei dem man sich all der guten Tanka erinnert, die er schon schrieb.

 

Scharnierzeilen verbinden die ganz kleinen Dingen mit dem großen Ganzen:

 

vom großen Zeh 

fliegt fort ein Stück 

Sternenstaub 

 

und gelegentlich reichen sich die Zeilen 1 und 3 auch die (dazwischen liegenden) Hände:

 

sublime Botschaft  

ihre Hand in seiner 

wie sie kälter wird

 

Genug gelobt. Eigentlich. Oder auch nicht. Aber was soll ich noch sagen, ohne allzu viel zu verraten vom „Kreischen der Kreide“? Kaufen!

 

Leonische Mauer 

die billigste Figur 

Jesus


Gabriele Hartmann

 

Kreischen der Kreide

the screech of chalk

 

Haiku / Poetry von Ralf BrökerRed Moon Press, Winchester VA, USA, 2016 ISBN 978-1-936848-53-9 mit einem Vorwort von Dietmar Tauchner

 

 

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